"Wenn wir nicht aufpassen, wird es über kurz oder lang fast nur Verlierer geben"

Viele Schüler haben Probleme mit der Orthografie. Fast jeder dritte Viertklässler in Deutschland erreicht nicht den Mindeststandard der Kultusministerkonferenz, nur 44 Prozent den Regelstandard – und damit deutlich weniger als noch in den Jahren 2011 und 2016. Aber: Ist das überhaupt schlimm? Wir haben darüber mit jemandem gesprochen, der es wissen muss: der Bildungsforscher Prof. em. Friedrich Schönweiss, der von 1997 bis 2021 an der Universität Münster den Arbeitsbereich „Neue Technologien im Bildungs- und Sozialwesen/Medienpädagogik“ leitete – und dort mit seinem Team den „Lernserver“, eine Plattform zur Diagnose und Förderung vor allem der Rechtschreibung bei Schülerinnen und Schülern, entwickelte.

Zweiter Teil des Interviews von News4teachers mit Prof. Dr. Schönweiss.

(Hier geht es zurück zum ersten Teil.)


News4teachers: Wie muss aus Ihrer Sicht Rechtschreibung denn vermittelt werden?

Schönweiss: Tja, das ist wirklich die Gretchenfrage. Denn letztendlich brauchen wir für jedes Kind und alle Jugendlichen, die mit dem bislang obligatorischen, gleichschrittigen Unterricht nicht klargekommen sind, ein ganz eigenes Curriculum. Das heißt, man braucht eigentlich für alle Kinder individuelle Förderpläne, passgenaue Lehrwerke, gezielte, lernbegleitende Unterstützung, die flexibel genug ist, um auch die Tagesform zu berücksichtigen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die den regulären Schulbüchern schon immer innewohnende Orientierung an einem normierten, gleichförmigen und tendenziell gleichgeschalteten Unterricht konnte unseren Kindern und ihren jeweiligen Lernbedürfnissen noch nie so richtig gerecht werden, weder den stärkeren noch denjenigen, die etwas mehr Schleifen oder Zeit benötigen, um ihren nächsten Lernschritt zu machen.

Generationen von Lehrkräften bemühten sich zwar, dieser verqueren Normierungsvorgabe gerecht zu werden und dennoch irgendwie das einzelne Kind nicht komplett unter den Tisch fallen zu lassen, denn niemand ist Durchschnitt. Dieser Spagat aber hat das Gros unserer Lehrkräfte selbst an ihre Grenzen gebracht. Kein Wunder also, dass seit Jahr und Tag viel von Burnout, Achtsamkeit, Sabbatjahren etc. zwar die Rede ist, aber die eigentliche Berufskrankheit machen sich nur wenige bewusst: Unterricht partout für einen fiktiven Durchschnittsschüler machen zu wollen (oder zu müssen), tut keinem gut, ist nicht zielführend und mündet letztlich nur in unnötig viele gescheiterte Berufsperspektiven oder gar Existenzen. Zum Glück wird diese fixe Normierungsidee mehr und mehr aufgebrochen.

News4teachers: Die Alternative zu einem gleichförmigen Rechtschreibunterricht kann aber wohl kaum die komplette Auflösung in lauter Individualbeschulungen sein, oder? Das dürfte schon angesichts des Lehrkräftemangels kaum machbar sein.

Schönweiss: Natürlich nicht, denn Lernen ist ja immer zugleich ein sozialer, vom Austausch lebender Prozess. Dies gilt erst recht für den Inhalt eines Rechtschreibunterrichts; denn dort geht es ja darum, Sprache und Schrift als das gemeinsame Dritte immer besser zu durchschauen und zu beherrschen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die jeweiligen individuellen Lernwege überschneiden und immer wieder ein größeres oder kleineres Stück gemeinsam gegangen werden kann. Sich dabei gegenseitig anzustacheln und über Aha-Erlebnisse auszutauschen, ist eine unschätzbare Erfahrung, die weit über den eigentlichen Gegenstand hinausreicht.

Das Schöne an der deutschen Rechtschreibung liegt ja darin, dass sie es trotz ihrer Feingesponnenheit und auch trotz aller Eigentümlichkeiten letztlich doch sehr leicht macht, ihr durchaus stimmiges Regelwerk samt den zahlreichen Ausnahmen zu durchschauen, sich immer vertrauter damit zu machen und sie ganz selbstverständlich anzuwenden. Etwas pädagogisch überhöht könnte man sagen: Die Kinder sollen sich mit Sprache und Schrift so kurzschließen können, als ob sie sich diese selbst ausgedacht hätten. Das mag idealistisch klingen, ist aber ein absolutes Muss. Denn ohne solche Aneinanderreihung von Erfolgserlebnissen, wenn ihnen die Logik jedes einzelnen Lernschritts tatsächlich einleuchtet, bliebe für sie die Rechtschreibung ein Buch mit sieben Siegeln, eine Pflichtübung anstelle einer Bereicherung. Kein Wunder, wenn sich dann Kinder als Fremdkörper in einer Einrichtung empfinden, die eigentlich nur dafür gedacht ist, dass sie Tag für Tag mehr wissen und können dürfen.

„Die Crux an vielen pädagogischen Methoden war, dass man partout meinte, die Sache mit der Rechtschreibung würde mehr oder weniger von alleine funktionieren“

Ganz ohne Hilfestellung bekommen die Kinder das nicht hin; sie brauchen kompetente Begleitung. Dies war ja die Crux an vielen pädagogischen Methoden, dass man partout meinte, die Sache mit der Rechtschreibung würde mehr oder weniger von alleine funktionieren. Dass man sich dabei in die Tasche gelogen hat, wurde geflissentlich übersehen. Denn es hat ja allenfalls dort geklappt, wo „bildungsnahe Elternhäuser“ in die Bresche gesprungen sind und sich heimlich, manchmal aber auch frech-ungeniert über das Verbot eines Einmischens hinweggesetzt haben, das allen Ernstes seinerzeit häufig erlassen wurde.

Grundsätzlich gilt: Man muss den Kindern frühzeitig klarmachen, dass Sprache und Schrift zwar kein Hexenwerk sind, sie aber auch keinem einfach so zufliegen. Ohne Anstrengung und Konzentration auf die jeweiligen Lernschritte geht es auch hier nicht. Freude darf und soll es natürlich dennoch machen, und auch das Spielerische darf nicht zu kurz kommen. Aber eine Motivation, die daraus erwächst, dass man sich wieder ein Stückchen weiter vorangebracht hat, ist durch nichts zu ersetzen.

Das Prinzip der unbedingten Fehlervermeidung ist also nicht angesagt. Gleichwohl ist es immer am besten, Fehler schleichen sich gar nicht erst ein, und die Kinder sind nicht gezwungen, sich eigene, dann meist halbgare Regeln zurechtzulegen oder gar zu meinen, Sicherheit in der Rechtschreibung über das unterschiedslose Auswendiglernen von Wortbildern erzwingen zu sollen. Allerdings darf man hier die Lehrkräfte nicht im Regen stehen lassen, weil sie unter den heutigen Bedingungen solch wünschenswert-notwendigen Bezug auf die einzelnen Kinder gar nicht so ohne Weiteres leisten können. Es werden Lösungen in Form einer intelligenten Nutzung der modernen Techniken benötigt, durch die Lehrkräfte exakt das zur Verfügung gestellt bekommen, was sie für einen solchen Unterricht brauchen.

Übrigens hat das Schreibenlernen am Anfang mit dem eigentlichen orthographischen Bereich noch gar nicht so viel zu tun. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Einstiegsphase, bei der es nach dem Kennenlernen der einzelnen Buchstaben um die Laut-Zeichen-Zuordnung oder Diskrepanzen zwischen Gesprochenem und Geschriebenem geht, für weniger wichtig gehalten werden kann. Es wäre fatal, hier die Kinder alleinzulassen. Dies gilt übrigens auch für die Handschrift, die keinesfalls als vermeintliches Relikt aus alten Zeiten unter den Schultisch fallen darf.

News4teachers: Hinter der Kritik des Philologenverband an den Grundschulen steckt offenbar auch der Anspruch, in den fünften Klassen orthographisch gut ausgebildete Schülerinnen und Schüler aus den vierten Klassen zu übernehmen. Ist das überhaupt realistisch? Anders gefragt: Muss nicht auch noch in den weiterführenden Schulen Rechtschreibung gefördert werden?

Schönweiss: Richtig, denn unsere Grundschulen taugen nicht sonderlich gut zum Sündenbock. Bei ihnen ballt sich doch derzeit alles, was wir an gesellschaftlichen Problemen und Herausforderungen so zu bieten haben. Dies sollte nicht nur anerkannt, sondern auch in der Form gewürdigt werden, dass wir alles dafür tun, unsere Grundschulen dazu in die Lage zu versetzen, die Basis für eine sichere Rechtschreibung und damit auch die anderen Lernbereiche zu schaffen. Dies kommt den weiterführenden Schulen zugute, die ja bislang schon bis zur sechsten Klasse den Auftrag hatten, sich der Orthographie zu widmen. Zahlreiche weiterführende Schulen nutzen bereits seit etlichen Jahren den Neustart in den fünften Klassen erfolgreich dafür, größere oder kleinere Schwierigkeiten gezielt und durchaus pfiffig anzugehen. An solchen positiven Erfahrungen sollte man unbedingt anknüpfen und sie kurzfristig auch ohne großes Erprobungsbrimborium zum Standard in Deutschland werden lassen.

Dass sich der Sekundarbereich künftig generell, auch in den höheren Klassen, noch sehr viel mehr als bislang um Rechtschreib- und Leseförderung kümmern muss und damit auch um inhaltliche LRS-Bereiche, die man bislang eher an den Grundschulen verortet hat, wird im Grunde von allen Verantwortlichen so gesehen. Ich kann jeder weiterführenden Schule nur empfehlen, diese Aufgabe nicht als lästige Pflicht zu verbuchen, sondern als Chance für innovative Konzepte und lebendige Schul- und Personalentwicklung. Ob in Form von klassen- oder schulübergreifenden Tutorenmodellen, Leseecken, Funktionsstellen für Förderkräfte, Weiterbildung, Einbinden von Eltern, von externen Förderkräften oderoder. Die Zeit dafür ist mehr als reif.

News4teachers: Zu tun gibt es in der Tat eine ganze Menge. Dazu zählt, dass der Anteil von Kindern, in deren Familien nicht Deutsch gesprochen wird, stetig zunimmt. Was bedeutet das für den Rechtschreib-Unterricht?

Schönweiss: Dieser Umstand ist mittlerweile zu einem Schlüsselproblem für unser gesamtes Bildungswesen geworden, und die Rechtschreibung ist mittendrin. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen man darauf hoffen konnte, es würde sich alles dank des großen Sprachförder-Engagements, gerade auch von Ehrenamtlichen, irgendwie von selbst regeln oder hinbekommen lassen. Dies hat natürlich auch zu Beginn der jüngeren Migrationsbewegung nicht so ganz gestimmt, weil der Umstand, selbst unfallfrei Deutsch sprechen und schreiben zu können, keinesfalls gleichbedeutend damit ist, Menschen aus anderen Sprachräumen zu einem vernünftigen, auf Dauer brauchbaren Einstieg in die neue Sprache verhelfen zu können. Inzwischen müssen wir uns zu der Einsicht durchringen, dass es einer konzertierten, riesigen Kraftanstrengung gerade auch an den Schulen braucht, um sicherzustellen, dass Heterogenität mit allem Drum und Dran nicht zu einem weiteren Beschleuniger für die eingangs angesprochene Abwärtsspirale wird. Wenn wir nicht aufpassen, wird es über kurz oder lang fast nur Verlierer geben.

Allerdings gibt es auch hier kein Patentrezept – dafür aber die Gewissheit, dass die Methoden, die bereits bei Muttersprachlern nicht greifen, erst recht fehl am Platz sind. Dies gilt natürlich für „Schreib, wie du sprichst!“, denn wir schreiben nun einmal nicht so, wie wir sprechen, und die dem Deutschen innewohnende Sprachmelodie will erst einmal dechiffriert sein. Doch während deutschsprachige Kinder aus dem wahrgenommenen Lautstrom unterschiedliche, ihnen bereits bekannte Wörter heraushören und diese diskriminieren können, sind Kinder aus anderen Sprachräumen nur mit diffusen Klängen konfrontiert, für dessen sinnhafte Zergliederung sämtliche Voraussetzungen fehlen.

Überdies stehen unsere Buchstaben für unterschiedlichste Laute und Lautnuancierungen. Zum Glück, muss man sagen, sonst könnten wir mit der genialen Beschränkung auf 26 bzw. 30 Buchstaben gar nichts anfangen. Überlegen Sie doch nur, wie viele gesprochene Varianten es für ein und dasselbe geschriebene „e“ gibt! Umso wichtiger ist es, das Hineinfindenlassen in die Besonderheiten unseres alphabetischen Schriftsystems nicht zu überspringen.

Die selbst bei deutschsprachigen Kindern nicht immer angebrachte Aufforderung: „Hör doch genau hin!“ ist also erst recht im DaZ-Bereich zu vergessen. Rechtschreibfehler resultieren doch oft genug daraus, dass die Kinder sehr viel genauer, als es die Orthographie verlangt, hören und spüren, was sie mit ihren Sprechwerkzeugen anstellen. Z. B. wenn sie bei „kommt“ einen Plosivlaut „p“ oder „b“ hineinschmuggeln, um beim Sprechen überhaupt die beiden Konsonanten „m“ und „t“ miteinander verbinden zu können.

„Erst recht im DaZ-Bereich sind wir auf qualifizierte und zugleich gefestigte Lehrkräfte angewiesen, die jede Form der Unterstützung verdienen“

Verzichten kann man beruhigt auch auf den zweifelhaften Trost, der besorgten Eltern zuteil wurde, wenn sie sich berechtigte Sorgen um ihre Kinder machten, weil sich deren Rechtschreibung partout nicht verbessern wollte: „Das wächst sich bestimmt noch aus!“

Was es also im DaZ-Bereich braucht, sind letztlich Tausendsassas als Lehrkräfte, die ein profundes Wissen um die Struktur der Schrift haben und gleichzeitig den Zusammenhang von Sprache und Schrift aus dem berühmten „ff“ kennen. Dies alles auch noch vor dem Hintergrund, dass Sprache und Schrift fast zeitgleich gelernt, verstanden, genutzt werden müssen und der Unterricht zusätzlich das zu kompensieren hat, was zuhause oder in Freizeitkontexten nicht oder nur rudimentär geleistet wird. Von der alles entscheidenden, leider aber oft erst einmal nur in Ansätzen vorhandenen Motivation, sich mit Verve in eine meist komplett fremde Zielsprache hineinfinden zu wollen, um darüber in der neuen Gesellschaft starke Wurzeln schlagen zu können, ganz abgesehen.

Kurz: Erst recht im DaZ-Bereich sind wir auf qualifizierte und zugleich gefestigte Lehrkräfte angewiesen, die jede Form der Unterstützung verdienen. Gerade hier braucht es auf breiter Ebene förderdiagnostischen Support in Form von präziser Diagnose, individualisierten Fördermaterialien und begleitender Qualifizierung als Voraussetzungen dafür, sich im Unterricht unter erschwerten Bedingungen auf systematische Schriftsprachvermittlung und ein kooperativ-unterstützendes, gemeinsames Lernen konzentrieren zu können. Das grade Gegenteil einer Marginalisierung von Rechtschreibung ist hier angesagt.

Interessant ist in diesem Kontext übrigens, dass es oft jene Jugendlichen sind, die bereits länger in Deutschland leben, die vielleicht aus der 2. oder 3. Generation stammen und die ihrer Unzufriedenheit Luft verschaffen, weil sie endlich richtig lesen und schreiben lernen wollen. Sie geben sich nicht mit einem Niveau zufrieden, das weit unter dem liegt, das sie erreichen könnten und auch wollen, damit ihr weiteres Vorankommen nicht unnötig durch fehlende schriftsprachliche Fähigkeiten behindert wird. Ob sich dadurch der berühmte Fachkräftemangel verflüchtigt, sei dahingestellt. Aber dass sich am Rechtschreibunterricht, am Sprechen, Lesen und Schreiben nicht nur individuelle Schicksale entscheiden, sondern zugleich die Weichen für die Zukunft einer ganzen Gesellschaft gestellt werden – das gilt es, spätestens jetzt auf dem Schirm zu haben. Andrej Priboschek, Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Interview.

Hier geht es zum ersten Teil des Interviews: ‚Wenn Lehrkräfte die Texte ihrer Schüler nicht mehr entschlüsseln können, ist das ein echtes Problem'

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