„Stadtstaat der Extreme“, so nannte die FAZ Bremen jüngst. Grund dafür unter anderem: Dem Land, zu dem auch das rund 60 Kilometer entfernte Bremerhaven gehört, fehlt der gesellschaftliche Mittelbau. Besser verdienende Familien wohnen lieber im umliegenden Niedersachsen und das hat drastische Folgen für die Sozialstruktur und Finanzkraft des Zwei-Städte-Staates. Entsprechend herausfordernd gestaltet sich die Bildungsarbeit. Die IQB-Studie 2021, die die Leistungen der Viertklässler:innen in Deutschland evaluiert, machte die Lage an den etwa 150 allgemeinbildenden Schulen des Stadtstaats erneut deutlich: Bremen liegt in allen untersuchten Kompetenzbereichen auf den letzten Rängen im Ländervergleich. Verfehlen deutschlandweit rund 30 Prozent der Kinder den Mindeststandard im Bereich Orthografie, so sind es in Bremen ganze 42 Prozent. Lediglich 31,4 Prozent der Bremer Schulkinder erreichen den Regelstandard, gerade einmal 4,2 Prozent den Optimalstandard.
Einziger Lichtblick: Während in anderen Bundesländern die Viertklässlerleistungen stark abgefallen sind, konnte Bremen die Werte stabil halten. Das könnte damit zusammenhängen, dass Bremer Schulen zum Zeitpunkt der Corona-Pandemie bereits digital gut ausgestattet waren, sagt André Sebastiani.
„Die Lernserver-Materialien werden seit etwa drei Jahren bei uns über die Landeslizenz genutzt und die Schulen, die sie konsequent eingesetzt haben, hatten sehr gute Erfolge damit“
„Die Digitalisierung war schon weit vorangeschritten, als die Schulen schließen mussten. Wir hatten bereits WLAN an allen Schulen und eine etablierte Lernplattform, für unsere 60.000 Schülerinnen und Schüler. Sehr schnell konnten wir dann eine Eins-zu-Eins-Ausstattung mit digitalen Endgeräten schaffen“, erklärt Sebastiani, der für die Bremer Senatorin für Kinder und Bildung im Referat Medien und Bildung in der digitalen Welt arbeitet. „Wir haben außerdem ein eigenes Portal, schule.bremen.de, über das alle zentralen Dienste und Lernanwendungen per Single Sign-on für Lehrkräfte und Schüler zugänglich sind.“
Hier soll jetzt auch der sogenannte Lernserver angebunden werden, ein an der Uni Münster entwickeltes Diagnose-Tool für die Rechtschreibförderung, das individuelles Fördermaterial inklusive didaktischer Anweisungen bereitstellt. „Die Lernserver-Materialien werden seit etwa drei Jahren bei uns über die Landeslizenz genutzt und die Schulen, die sie konsequent eingesetzt haben, hatten sehr gute Erfolge damit. Deshalb haben wir uns entschieden, die Lizenz im Anschluss an diese Testphase für alle Schulen zu verlängern“, erklärt Sebastiani.
Welchen Herausforderungen Lehrkräfte ausgesetzt sind und wie schwierig die individuelle Förderung sein kann, das weiß der ehemalige Lehrer aus seiner eigenen 16-jährigen Unterrichtszeit an Grund- und Hauptschule. Heute versucht er seine Praxiserfahrungen in Lehrerfortbildungen und in der Schul- und Unterrichtsentwicklung weiterzugeben. Auch der Einkauf der großen Landeslizenzen gehört zu seinem Aufgabenbereich. „Ich versuche, interessante Produkte zu identifizieren, mit Hilfe von unseren Fachleuten einschätzen zu lassen und, soweit wir sie finanzieren können, Lizenzen dafür zu beschaffen, und berate Schulen, insbesondere Grundschulen, dabei, wie sie Anwendungen wie das Lernserver-Programm am besten einsetzen“, erklärt er.
Bevor Sebastiani aber den Schulen das Lernserver-Programm anbot, probierte er die Materialien mit seinen eigenen Kindern aus. Denn auch die hatten, trotz Lehrer-Eltern, sehr unterschiedlich ausgeprägte Rechtschreib-Defizite. „Natürlich muss man als Eltern ganz schön am Ball bleiben, damit die Kinder auch kontinuierlich damit arbeiten“, sagt Sebastiani lachend. „Aber wenn man es tut, dann zahlt es sich auch aus.“
„Das Material selber bietet darüber hinaus unglaublich hilfreiche Hinweise für die Hand desjenigen, der die Förderung durchführt“
Woher die Schwierigkeiten mit der Orthografie kommen? Es gebe sicherlich mehre Faktoren, aber die Art und Weise, wie Rechtschreibung in der Vergangenheit unterrichtet wurde, halte er tatsächlich für eine der Ursachen, sagt Sebastiani. „Davon bin ich ziemlich überzeugt. Ich bin keiner, der die ‚Lesen durch Schreiben‘-Methode bashed. Die hat schon ihre Berechtigung. Ich glaube aber, dass man viel früher anfangen muss, verbindliches Regelwissen beizubringen“, sagt er. „Ich finde es sehr schön, wenn sich Kinder sehr früh auch schriftsprachlich äußern können. Nur müssen sie dann auch im gleichen Schritt zu einer richtigen Schreibung kommen. Das heißt nicht, dass ich jedes falsch geschriebene Wort mit rotem Stift anmarkern muss. Aber ich würde mir schon wünschen, dass ein Text zum Beispiel noch einmal korrekt abgeschrieben wird. Das ist vielleicht anstrengend, aber für die Rechtschreibfähigkeit sinnvoll. Ich habe das Gefühl, dass bei meinen eigenen Kindern der Gedanke ‚Wie wird das Wort eigentlich geschrieben?‘ erst dann auftaucht, wenn es schon auf dem Papier ist. Und da würde ich mir ein bisschen mehr Schreibhemmung wünschen. Das ist aber meine persönliche, private Empirie“, so Sebastiani weiter.
Hinzu kämen Problemlagen, die als Risikofaktoren gelten. Dazu gehörten Migration, keine deutsche Muttersprache im Elternhaus und Armut. Und die seien in Bremen und Bremerhaven massivst vorhanden, so der Lehrer weiter.
Umso erfreulicher fällt der Blick auf die ersten Ergebnisse der Testphase aus: „Wir haben in Bremen zum Beispiel eine Schule, die den Lernserver sehr systematisch in der 5. Klasse eingeführt hat. Zunächst wurden die Schüler:innen mit dem sogenannten A-Test diagnostiziert. Die allerschwächsten Schüler mit einem Prozentrang von unter 15, wurden dann mit dem Lernservermaterial in Zusammenarbeit mit einem Nachhilfeinstitut gefördert. Das heißt, 85 Prozent der Vergleichsgruppe haben besser abgeschnitten als diese Kinder“, erklärt Sebastiani. „Ein großer Vorteil angesichts fehlender Lehrkräfte war, dass hier im Wesentlichen Studierende, die durch das Lernserver-Projekt entsprechend qualifiziert wurden, gefördert haben. Das Material selber bietet darüber hinaus unglaublich hilfreiche Hinweise für die Hand desjenigen, der die Förderung durchführt.“
Nach einem Schuljahr wurde dann der B-Test zur Überprüfung des Lernfortschritts durchgeführt. Das Ergebnis: Die Schüler*innen hatten sich im Durchschnitt um 15 Prozentränge verbessert. Etliche seien dabei gewesen, die tatsächlich überdurchschnittliche Rechtschreiber geworden sind. „Das waren Schüler, die nach nur einem Jahr Förderung über Prozentrang 50 lagen. Und das zeigt mir eigentlich schon, dass wahrscheinlich systematisches Rechtschreibtraining vorher irgendwo zu kurz gekommen sein muss,“ so Sebastiani weiter. „Das ist schon ein Wahnsinnssprung in der Leistung in so kurzer Zeit. Deshalb würde ich auch sagen, wenn man Studierende einsetzt und so eine gezielte Förderung macht, ist das eine extrem günstige Maßnahme. Denn wenn man mal schaut, welche Auswirkungen mangelnde Schreibkompetenz auf die Lebenschancen der Schülerinnen und Schüler haben kann, ist das eigentlich eine winzige Intervention. Und wenn man dazu noch bedenkt, was die Hilfesysteme kosten, die man im Anschluss an Schule schaltet, wenn Schüler keine Lehrstelle finden – zum Beispiel, weil sie keine Bewerbung schreiben können –, dann ist es eigentlich fast Sünde, wenn man so eine Fördermaßnahme wie den Lernserver nicht systematisch in die Fläche bringt. Und das versuchen wir jetzt in diesem Schuljahr auf die Schiene zu bekommen.“
Gleichzeitig will sich das Land intensiv dem Thema Leseförderung annehmen und führt in diesem Schuljahr die Leseband-Methode nach Hamburger Vorbild ein. André Sebastiani freut sich darüber: „Wenn wir Lesen und Rechtschreiben jetzt auch noch im Verbund schalten, habe ich seit langem wieder ganz gute Hoffnung, dass wir auch mal einen echten Fortschritt machen können in Bremen.“