Was haben Rechtschreibung und das Handschreiben miteinander zu tun? „Wir beobachten bei den uns zugeschickten Rechtschreibtests immer wieder, dass viele Kinder sehr unsauber schreiben und die Eindeutigkeit bei der Formgebung, wie zum Beispiel die unterschiedlichen Strichlängen bei n und h, bewusst vermeiden“, so erklärt die Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin Maria-Valentina Westermann, Projektleiterin des Lernservers. „Erst wenn die dafür nötigen Werkzeuge souverän beherrscht werden – und dazu gehört die Handschrift –, kann sich ein Kind auf das, was es zu schreiben oder zu lesen gilt, wirklich konzentrieren.“ Andersherum fehlt Schülerinnen und Schüler, die noch keine automatisierte Handschrift entwickelt haben und beispielsweise unter motorischen Problemen wie einer schnellen Ermüdung der Schreibhand leiden, die Aufmerksamkeit, um sich auf die Rechtschreibung konzentrieren zu können.
Hier setzt das Handschreib-Trainingsprogramm „Buchstaben und Zahlen richtig schreiben – von Anfang an“ an, das in einer früheren Auflage bereits an zahlreichen Grundschulen eingesetzt wird. „Es hilft dabei, die ersten Gehversuche in Sachen Schreiben und Lesen auf einen guten Weg zu bringen: Die Formerfassung und Schreibung von Buchstaben und Zahlen stehen im Vordergrund“, sagt die Autorin, Maria-Anna Schulze Brüning. Kinder, die diesen ersten Schritt beherrschten, täten sich anschließend mit dem weiteren Schriftspracherwerb um einiges leichter.
Warum ist die korrekte Formerfassung von Buchstaben so wichtig? „Druckbuchstaben können Kinder mit wenigen Formelementen darstellen – mit geraden Linien, Bögen, Kreisen und Halbkreisen. Auf diese Weise aber werden die Buchstaben mehr abgemalt als geschrieben; sie werden nicht als etwas Ganzes, Eigenständiges erfasst, sondern aus den wahrgenommenen Einzelelementen zusammengebaut, meist in beliebiger Reihenfolge und Bewegungsrichtung“, so erklärt die Expertin. Die richtige Schreibrichtung erschließe sich nicht von selbst, wobei diese für eine flüssige und koordinierte Schrift aber unerlässlich sei.
„Schreiben bedeutet nicht Abmalen!“
Maria-Anna Schulze Brüning: „Es gilt also, Kindern Bewegungsrichtungen und Formvorgaben zu vermitteln, was umso schwieriger wird, wenn sie schon damit begonnen haben, beim Schreiben ihrer eigenen Formlogik zu folgen. Falsche Bewegungen sind schnell automatisiert und können später nur mit großer Anstrengung geändert werden. Das richtige Schreiben von Anfang an ist also elementar wichtig, und dem Kind muss klar sein: Schreiben bedeutet nicht Abmalen!“
Entscheidend sei, dass das Kind die Bewegungsrichtungen und die idealtypische Gestalt der einzelnen Buchstaben erfasse und ihre genauen Unterschiede erkenne. „Buchstaben, die nur minimal voneinander abweichen, wie beispielsweise das n und das h, können nur dann identifiziert werden, wenn es eben nicht egal ist, ob der Strich nun ein bisschen länger oder kürzer ist. Oder wenn man weiß, dass das b nicht mit einer 6 identisch ist. Diese Eindeutigkeit von Symbolen, das Erfassen ihrer Gestalt und ihrer vorherrschenden Bewegungsrichtung von oben nach unten und von links nach rechts macht es möglich, zu einer flüssigen Handschrift und später dann zu einer eigenen Form, einer eigenen Handschrift zu finden.“
„Das Handschreiben ist die Grundlage fast aller Bildungsprozesse“
Und die ist wichtig – auch für das spätere Lernen, wie der Bildungsforscher und Mediendidaktiker Prof. em. Dr. Friedrich Schönweiss betont. Er beobachtet die Lern- und Leistungsentwicklung an den Grundschulen seit Jahrzehnten. „Das Handschreiben ist die Grundlage fast aller Bildungsprozesse. Die ‚Bauteile‘ unserer Schrift, die Buchstaben nämlich, genau zu kennen und sicher verwenden zu können, ist Voraussetzung für alles Weitere – von Rechtschreibung über kreative Textproduktion bis hin zum Benutzen der Computertastatur“, erklärt Prof. Schönweiss. „Dass immer mehr Kinder Schwierigkeiten mit der Handschrift haben, ist also ein echtes und ernstzunehmendes Problem. Dem möchte unser Heft entgegenwirken. Wir wollen all jenen den Rücken stärken, die in den Schulen oder mit ihren eigenen Kindern die Kulturtechnik des Handschreibens als Basiskompetenz gezielt fördern möchten.“
Maria-Anna Schulze Brüning ist Lehrerin, Autorin und Handschrift-Expertin. Sie verfügt über jahrzehntelange Erfahrung in der Schriftförderung und Praxisforschung, entwickelte verschiedene Schrifttrainings, eigene „Schlangenbuchstaben“ zum Einprägen der korrekten Schreibrichtung sowie eine altersübergreifend nutzbare Lineatur. Ihr zusammen mit Stephan Clauss verfasstes und im Piper-Verlag erschienenes Buch „Wer nicht schreibt, bleibt dumm – Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen“ stieß bundesweit auf große Resonanz.
Prof. Dr. Schönweiss leitete bis 2021 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster den Arbeitsbereich „Neue Technologien im Bildungs- und Sozialwesen/Medienpädagogik“. Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team aus Sprachwissenschaft, Informatik, Pädagogischer Praxis und Lerntherapie erforschte Schönweiss, welche Schwierigkeiten beim Umgang mit Sprache und Schrift auftauchen können, wie Rechtschreibfehler entstehen, was es braucht, um aus ihnen lernen zu können – und welche Chancen dabei moderne Technologien bieten.
Aus dieser Arbeit ist unter dem Namen „Lernserver“ ein System entstanden, das computergestützte Förderdiagnostik und die Bereitstellung individualisierter Förderpläne und Übungsaufgaben vereint. Inzwischen ist der Lernserver über 700.000-mal zum Einsatz gekommen, mit Tools wie HP5-basierten interaktiven Lernmaterialien, aber auch Qualifizierungsinitiativen ergänzt worden, und soll Lehrkräften bei der Diagnose und Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler Zeit und Kraft sparen.
Hier lässt sich das Heft „Buchstaben und Zahlen richtig schreiben – von Anfang an“ gratis herunterladen: www.ls-lnk.de/handschrift