Hoffnung großgeschrieben: Lehrerin Eva Henze über die Rechtschreibförderung an ihrer Brennpunktschule

BREMEN/MÜNSTER. Mit über 37.000 Einwohnern und einer Arbeitslosenquote von etwa 26 Prozent ist Gröpelingen der größte und zugleich ärmste Stadtteil im Bremer Westen. Über 36 Prozent der Menschen dort haben Migrationserfahrung. Damit ist der Ausländeranteil etwa doppelt so hoch wie im restlichen Bremen. Der ehemalige Werftstandort ist zu einem Ankommensstadtteil geworden. Für die Sprachförderung bringt das andere Herausforderungen mit sich, als es die Lehrerin und Lerntherapeutin Eva Henze zunächst gewohnt war. Gerade im Bereich der Rechtschreibförderung kann Mehrsprachigkeit eine Herausforderung sein, berichtet sie. Im Interview erzählt sie außerdem, wie sie zu ihrer Doppelrolle gekommen ist und wie sie an ihrer Schule im Gröpelinger Ortsteil Ohlenhof individuelle Materialien des Lernserver-Angebots einsetzt, die genau dort ansetzen, wo das Kind zuerst Unterstützung benötigt.

Wie sind Sie Lerntherapeutin geworden?

Eva Henze: Ich habe vor ungefähr 25 Jahren mein ganz normales Referendariat gemacht. Zuerst habe ich zwei Jahre lang als Deutschlehrerin an Berufsfachschulen gearbeitet, mich dann aber für eine Zusatzausbildung zur Montessori-Pädagogin entschieden. Bis 2015 habe ich dann in einer Grundschule in der Nähe von Hannover als Montessori-Lehrerin gearbeitet. Bei der Arbeit mit dem Montessori-Konzept ist es wichtig, die Kinder individuell zu beobachten, ihren aktuellen Entwicklungsstand und ihr Leistungsniveau immer relativ schnell zu analysieren, um ihnen die dazu passenden Lernmaterialen anzubieten. Dabei habe ich aber gemerkt, dass ich mich gerne mit Kindern beschäftige, die manches eben nicht lernen, obwohl so tolle Materialien zur Verfügung stehen. Warum ist das so? Die Frage fand ich total spannend. Deshalb habe ich berufsbegleitend eine Lerntherapieausbildung gemacht. Als ich dann aus privaten Gründen nach Bremen gegangen bin, habe ich mit meiner jetzigen Stelle eine wunderbare Hybrid-Lösung gefunden: Vormittags bin ich Lehrerin und bringe meine ganzen Erfahrungen mit in die normale Schule und nachmittags biete ich als Teilselbständige LRS-Training an.

Sie arbeiten an einer Oberschule, noch dazu einer sogenannten Brennpunktschule. Das ist sicherlich nicht zu vergleichen mit der doch eher überschaubaren Welt einer Grundschule in freier Trägerschaft.

Eva Henze: Das stimmt. Meine Schule, die Oberschule Ohlenhof, liegt in Gröpelingen, dem ärmsten Stadtteil von Bremen. Ich arbeite dort vor allem im Förderbereich und unterrichte in der fünften und sechsten Klasse, weil ich diese Lerngruppe als Montessori-Lehrerin und als Lerntherapeutin in den Grundlagen Rechnen, Schreiben, Lesen gut bedienen kann. Deshalb bin ich hier genau richtig am Platz mit meinen Erfahrungen. Denn das Problem hier ist, dass es in Gröpelingen keine Lerntherapie-Angebote gibt, weil die Eltern das privat gar nicht bezahlen könnten. Es gibt in Bremen zwar schon LRS-Kurse an den Schulen, aber die Plätze sind sehr minimiert.

Außerdem macht es aus meiner Sicht als Lerntherapeutin Sinn, sich die Probleme der Kinder individuell anzuschauen, idealerweise in Einzelstunden. Dass sich das Gerücht, man könne mit einer Rechtschreibschwäche nun einmal nicht gut Rechtschreiben lernen, hartnäckig hält, liegt oftmals auch daran, dass man ja auch nicht genau guckt, wo eigentlich die Schwierigkeiten liegen. Das ist in etwa so, als wenn man in Mathe das Addieren nicht kann, aber immer das Dividieren übt. Das macht ja keinen Sinn. Und so müsste man bei der Rechtschreibung auch die individuellen Probleme finden und daran arbeiten.

Welches sind denn die häufigsten Schwierigkeiten Ihrer Schüler und Schülerinnen?

Eva Henze: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man sehr stark in der alphabetischen Ebene, also im Bereich Lautsymbolzuordnung und Buchstabenzuordnung, fördern muss, wenn eine Zweisprachigkeit und ein Rechtschreibproblem zusammenstoßen. Also, ich sage es jetzt mal ganz lapidar: Dadurch, dass man zum Beispiel im Türkischen ganz verschiedene S-Laute hat, die man im Deutschen gar nicht so kennt, kommt ein Kind mit türkischer Muttersprache unter Umständen in Konflikte, weil es einfach nicht weiß, wie es diese Laute in der jeweiligen Sprache verschriftlichen soll. Hat ein deutschsprachiges Kind diese Probleme, kann man es relativ schnell erklären: Beim „St“ hört man zwar ein Sch und ein T, aber das ist eine Ausnahme. In der türkischen Sprache gibt es hingegen ein C und ein S und weitere Möglichkeiten. Ich habe mal eine Woche lang versucht Türkisch zu lernen und ich bin kläglich gescheitert. (lacht)

Im Deutschen gibt es ja auch einige Dialekte, wenn man jetzt einmal nach Baden-Württemberg zum Beispiel schaut, die ähnliche Schwierigkeiten hervorrufen dürften. Da kann der Bäckergeselle schon mal zum „begaxl“ verschriftlich werden. 

Eva Henze: Ja, das ist ein ähnliches Problem. Da sind wir hier in Bremen natürlich nah am Hochdeutschen, was es für Kinder mit deutscher Muttersprache etwas einfacher macht.

Sie arbeiten jetzt seit eineinhalb Jahren mit den sogenannten „Lernserver“-Materialien in der Rechtschreibförderung. Wie kam es dazu?

Eva Henze: Ich hatte damals versucht, individuellere Fördermöglichkeiten für meiner Schüler und Schülerinnen mit LRS zu finden und war im Internet durch einen Zufall auf den Lernserver gestoßen. Ich habe dann eine E-Mail an den Verlag geschickt, weil ich ein paar konkrete Fragen hatte. Als kurze Zeit später das Telefon klingelte, war ich schon sehr erstaunt. Ich habe eine ausführliche Beratung bekommen und bekam den Hinweis, dass Bremen ja schon eine Lizenz hat, die ich auch nutzen könnte. Wow. Da war ich natürlich sehr angetan von diesem Service. Und dann habe ich mich weiter informiert und gemerkt, was für eine Möglichkeit das für unsere Schule sein könnte.

Und wie arbeiten Sie jetzt mit dem Lernserver-Angebot?

Eva Henze: Zuerst kamen es im LRS-Training zum Einsatz. Ab diesem Schuljahr nutzen alle Kinder der fünften und sechsten Klasse bei uns an der Schule die Materialien. Dazu wird zunächst die Lernserver-Diagnostik durchgeführt, die auf der Münsteraner Rechtschreibanalyse basiert. Das sind Lückentests, die die Schüler bearbeiten. Die Lehrkraft trägt dann lediglich die Fehler im System der Lernserver-Plattform ein. Die wiederum erstellt daraufhin automatisch die Auswertung sowie individuelle Fördermappen mit Übungen, die genau auf die Schwachstellen der Schülerin oder des Schülers ausgerichtet sind.

Es gibt auch die Möglichkeit, Fördermaterialien für Kleingruppen zu erstellen. Die werden wir nach einer Fortbildung durch den Lernserver dann auch nutzen und in der neu eingeführten, zusätzlichen Deutsch-Förderstunde umsetzen. Das Gute an der Arbeit mit den Fördermappen ist hier, dass auch Nicht-Deutschlehrer es hinbekommen, sich im Zeitrahmen einer normalen Unterrichtsvorbereitung auf eine Förderstunde mit Kleingruppen vorzubereiten. Dazu stellt der Lernserver den Lehrern Vorbereitungsblätter bereit, die im Fördermaterial schon vorgegeben sind. Das ist natürlich wunderbar. Auf diese Weise könnte man auch die siebte bis zehnte Klasse bestücken.

Reicht denn eine Förderstunde pro Woche aus, um die Rechtschreibung zu verbessern?

Eva Henze: Wir haben jetzt auf jeden Fall eine komfortable Ausgangssituation. Vorher wusste man gar nicht, wo man eigentlich anfangen sollte. Dazu kommt noch das Problem der Übergabe und der Besprech- und Kooperationszeiten. Die Frage ist: Wann sollen wir dafür Zeit finden? Und deswegen ist das Lernserver-Konzept eben einfach gut, denn es versetzt jeden Lehrer relativ schnell in die Lage, die Förderung zu übernehmen.

Darüber hinaus wird es aber sinnvoll sein, für jedes Kind zu schauen, wo genau man Lernförderschwerpunkte setzt. Es gibt durch die Coronapandemie und durch andere Umstände Kinder, die sitzen in Mathe, im Rechtschreiben und im Lesen in der Förderung und wissen vor lauter Förderung schon gar nicht mehr, wo sie hingucken sollen. Diese Kinder haben ja unter Umständen auch noch andere Schwierigkeiten. Da muss man sich nicht wundern, dass die gar nichts mehr machen.

Also muss man individuell hinschauen und auch mal das fördern, was gut klappt. Je nachdem, wo das Selbstwertgefühl des Kindes liegt. Und dann gibt es Schüler, die eigentlich erst einmal eine Ergotherapie machen müssten oder eine logopädische Behandlung bräuchten, weil noch ganz andere Dinge überhaupt nicht funktionieren, zum Beispiel das Gehör oder die Sprechmuskulatur trainiert werden müssten. Wir haben an unserer Schule das große Glück, dass eine Kollegin, mit der ich eng zusammenarbeite, Logopädin ist und auf solche Dinge hinweisen kann.

Der Lernserver kann diese Bereiche natürlich nicht ersetzen. Trotzdem bin ich total überzeugt von diesem Konzept. Ich verstehe mich nicht als Missionarin, die will, dass jeder das Abitur macht. Mir geht es eher darum, Schülerinnen und Schülern, die gerne mehr lernen möchten, ein Angebot zur Verfügung stellen zu können und dem Kind im Grunde auch ein bisschen die Hoffnung geben, dass sich seine Anstrengung lohnen wird. Das ist ja eigentlich die Message, die Schule vermitteln soll.

Heißt das, die Arbeit mit dem Lernserver-Angebot kann Schüler:innen motivieren?

Eva Henze: Ja, denn es bietet eine Struktur, die die Kinder auch zum eigenständigen Lernen nutzen können, mit Übungen, die ganz speziell für sie zusammengestellt wurden. Nichts gegen andere Fördermaterialien, die auch gut sind. Aber sie geben eben bestimmte Themen vor, von denen man allgemein denkt, es wäre gut, wenn das Kind sie mal alle durchackert. In der Regel hat man allerdings keine Zeit, sich mit den Dingen zu beschäftigen, die eigentlich gerade unwesentlich sind. Wenn man als Kind aber das Gefühl hat, da hat sich jemand die Arbeit gemacht, extra für mich was herzustellen, dann ist das, glaube ich, auch nochmal eine Motivation.

Letztens noch habe ich von einem mehrsprachigen Kind gehört (und das höre ich ganz oft): „Frau Henze, ich glaube, ich bin blöd.“ Ich habe ihm gesagt: „Jemand, der vier Sprachen spricht, kann nicht blöd sein. Also muss es an was anderem liegen.“ Für solche Fälle ist diese ganze Konzeption der Förderung mit dem Lernserver einfach wunderbar, weil ich nämlich jetzt die Möglichkeit habe, immer wieder zu sagen: „Hier, du könntest lernen, wenn du willst. Also, wenn das für dich gerade dran ist und das dein Wunsch ist, dann schaffen wir das.“ Das ist, glaube ich, wichtig für Schule, dass man das herüberbringt. Sonst hat man irgendwann Kinder, die sagen: „Ja, wären wir in einem anderen Stadtteil geboren, hätten wir diese Schwierigkeiten alle nicht.“ Das darf nicht sein, finde ich.

 

Erschienen u.a. auf: News4Teachers

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