Immer wieder finden inzwischen an deutschen Schulen Amokläufe statt. Auch häufen sich Meldungen, die auf eine immer niedrigere Gewaltschwelle bei Jugendlichen verweisen. Bei aller Besonnenheit, mit der nun heute in Ludwigshafen auf die Ereignisse an der Berufsbildenden Schule Technik 2 durch die Verantwortlichen reagiert wurde, zeugen viele Diskussionen, die sich solchen Gewaltausbrüchen widmen, eher von Hilflosigkeit.
Wie ein Reflex werden nach jeder Gewalttat an Schulen Rufe laut, die ein Verbot oder eine Indizierung von gewalthaltigen Computerspielen fordern – als ob damit solch schrecklichen Geschehnisse zu verhindern wären. So einfach ist die Welt nicht wieder ins Lot zu bringen.
Zwar müsste man diesen nur zu oft geschmacklosen Spielen, mit denen unsere Kinder ihre Zeit verplempern, nicht nachtrauern. Der Menschheit ginge wirklich nicht viel verloren, wenn Egoshooter und die diversen Ballerspiele auf den Misthaufen der Geschichte geworfen würden. Aber abgesehen davon, dass Verbote nie wirklich greifen, wäre es viel wichtiger, sich zu fragen, was eigentlich in den Köpfen und Seelen unserer Kinder vorgeht, wenn sie ausgerechnet dort ihre Erfolge und ihre Befriedigung krampfhaft zu sammeln suchen.
Der Ruf nach Verboten ist immer auch Ausdruck von Hilflosigkeit, mit der man der nachfolgenden Generation offensichtlich gegenübersteht. Irgendwie scheinen uns unsere Kinder zu entgleiten, und keiner weiß so recht, warum.
Selbst die, die es eigentlich wissen müssten, Georgs oder Tims Freunde, Lehrer und auch ihre Eltern können es sich nicht erklären, weshalb ein eigentlich weitgehend unauffälliger Junge scheinbar urplötzlich zum „Killer“ wird, der auch noch Spaß daran fand, möglichst viele reale Leben auszulöschen.
Erschreckend und zunächst unerkärlich ist auch die große Zahl von sog. Trittbrettfahrern, aber auch von Jugendlichen, die für solche Taten Verständnis äußern, so diffus dies auch sein mag. Kurz nach den Geschehnissen in Winnenden etwa erfuhr ich von der Vorsitzenden eines bundesweiten Elternverbandes, wonach im Rahmen einer Veranstaltung „zwei ganz normale Jugendliche“ ohne jedes Zögern dies verrieten: sie selbst hätten solche Wut auf Lehrer und Schulen, dass sie Tims Tat ein ganzes Stück weit verstehen und nachvollziehen könnten.
Auch wenn es kurz nach solchen Taten und auch angesichts der Traumatisierung der betroffenen Schüler, Lehrer und Eltern schwerfällt, sollten wir uns dessen bewusst sein: Bei den Georgs, Tims, Robert oder wie sie alle heißen mögen, hat es eine Vorgeschichte gegeben. Es müssen viele kleine Übergänge stattgefunden haben, bis es zur buchstäblichen Explosion gekommen ist.
Wir alle tendieren ja nun dazu, uns an vieles zu gewöhnen. Was aber, wenn gerade die fast unscheinbaren und oft unbemerkt und unter der Oberfläche ablaufenden Prozesse entscheidend sind? Könnte es nicht so sein, dass manches schiefläuft, diese Dinge uns aber deshalb nicht als Alarmsignal auffallen, weil sie scheinbar nun einmal zum schulischen Alltag gehören? Könnten nicht z.B. hämische Bemerkungen von Klassenkameraden, wenn man die Lehrerfragen nicht souverän beantworten kann, das Gefühl, an der Tafel der ganzen Klasse ausgesetzt zu sein, die leidigen Noten oder das rote Anstreichen von Fehlern kleine Anlässe für solche Übergänge sein: weil sie von Kindern und Jugendlichen als ganz persönliche Niederlagen empfunden werden?! Könnte es nicht sein, dass viel zu häufig Kinder Schule und Unterricht nicht als das Angebot empfinden, das es der Sache nach ist, sondern sie ganz diffus das Gefühl haben, in der Schule geht es irgendwie nicht richtig um sie? Schule sei irgendwie eine seltsame Erfindung der Erwachsenen, die man leider über sich ergehen lassen müsse. Wie oft bekommt man als Antwort, was für die Kinder das Wichtigste an der Schule sei: „Weil man dort seine Freunde trifft!“
Ich erinnere mich noch gut an mehrere Veranstaltungen, die wir seinerzeit (nach Erfurt und Emsdetten) durchführten, als besorgte Eltern fragten, wie denn die Computerfaszination ihrer Kinder einzuschätzen sei.
Natürlich wäre es Unfug, jedem Computerspieler, der seine Freizeit an Egoshooter verschenkt, zu unterstellen, er würde über kurz oder lang zu einer menschlichen Bombe mutieren.
Aber das Unbehagen von Eltern und Lehrern ist durchaus ernst zu nehmen. Der oft fast manische Rückzug von vielen Kindern und Jugendlichen in ihre virtuellen Welten kann auch als ein Indiz dafür genommen werden, dass sie sich der wirklichen Welt zumindest ein Stück weit entziehen wollen. Sie möchten, so ihre Sicht, den Spieß umdrehen und sich in eine Welt beamen, in der sie endlich einmal das Subjekt sind und sich mit keinerlei realen Anforderungen, Problemen oder Versagensängsten auseinandersetzen müssen. Ein Irrtum, der sie früher oder später leider sehr viel mehr kostet als nur Zeit und Geld.
Solche Signale gilt es ernst zu nehmen wie auch die vielen anderen Hinweise, in denen Kinder uns auf ihre Weise mitteilen, dass sie unsere Unterstützung bräuchten. Ob bei Schwierigkeiten, in Sachen Schulstoff mitzuhalten oder aber auch bei familiären Problemen, bei kulturell oder durch Gruppendruck bedingten Konflikten, bei allgemeinen Entwicklungsproblemen, für die der geeignete Ansprechpartner fehlt.
Es ist ja auch alles andere als leicht, sich in der modernen Welt zu behaupten und an einer eigenen, stimmigen Identität zu basteln. Und ob das mediale Angebot, ob Studi-Verzeichnis oder Talkshows, ob all die Soaps bis hin zum Mitschwimmen im gerade angesagten Superstar-Trend wirklich das ist, was man als junger Mensch auf dem Weg zu seinem Glück und als Orientierung braucht, darf durchaus bezweifelt werden.
Gerade weil Eltern bei der Erziehung der nachfolgenden Generation immer häufiger an ihre Grenzen stoßen, wird verstärkt Schulen die Aufgabe zugewiesen, in die Bresche zu springen. Schulen und Lehrer können aber nicht alles alleine leisten. Um so wichtiger erscheint es, an Netzwerken zu basteln, die rechtzeitig Kinder auffangen helfen.
Wenn also Schulen sich einer professionellen Unterstützung bedienen, wenn Lehrer mit Sozialpädagogen, Psychologen oder Lerntherapeuten kooperieren, ist dies alles andere als ein Zeichen für Schwäche. Es ist auch kein Hinweis auf eine Klientel, die nicht an unsere höheren Schulen gehört oder gar für das Versagen von Schule oder Lehrern. In einer Zeit, in der sich Kinder wie Schulen an qualitativ neuen Herausforderungen messen lassen müssen, ist das systematische Implementieren von schulsozialpädagogischen Ansätzen und das Vernetzen mit externen Förderexperten Bestandteil einer modernen Schule. Niemand kann sich heute einem veränderten Normalitätsbegriff entziehen, der unscharf mit den Begriffen Problemlösefähigkeit, Schlüsselqualifikation, Medienkompetenz oder Lebenslanges Lernen umschrieben wird. Um von diesen gewachsenen Ansprüchen nicht erdrückt zu werden, denen übrigens auch wir Großen nicht immer entsprechen können, brauchen Kinder unsere Unterstützung. Und manchmal auch ihre Lehrer.
Gerade auch als Hochschullehrer, der für die Ausbildung der angehenden Lehrer wie Diplompädagogen zuständig ist, fühle ich mich dazu in die Pflicht genommen. Zusammen mit einer großen Zahl von Lehrern, Studierenden und Förderexperten möchten wir dazu beitragen, dass Kinder endlich hinsichtlich ihrer ganz besonderen Fähigkeiten ernstgenommen werden können, indem sie die individuelle Förderung erhalten, die sie brauchen.
Wenn es gilt, unseren Kindern die Einsicht zu vermitteln, dass Schule und Unterricht ihren vollen Einsatz wie ihr Interesse verdienen, spielt eine entscheidende Rolle dabei die individuelle Förderung. Nicht umsonst haben unsere Landesregierungen dies als Recht in ihren Schulgesetzen verankert. Eine zentrale Bedeutung hat dabei die individuelle Förderung auf dem Gebiet der Rechtschreibung. Schließlich ist ein souveräner Umgang mit Sprache und Schrift der maßgebliche Schlüssel dafür, die eigenen Begabungen umfassend erschließen und seine Lebenspläne erfolgreich verwirklichen zu können.
Den Auftrag einzulösen, individuell zu fördern, ist freilich alles andere als leicht, so sehr dieser Anspruch das Herzstück des Selbstverständnisses eines jeden Pädagogen sein mag. Wie soll der Spagat zwischen der Verantwortung für die ganze Klasse und dem Kümmern um den einzelnen Schüler gemeistert werden? Oft fehlt es an ausreichend geschulten Lehrkräften, Förderstunden und Fördermitteln. Manchmal auch an entsprechenden Konzepten in den Grundschulen. Wenn man z.B. den Kindergarten in die Grundschulen hinein verlängert und die Kinder so schreiben lässt, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. Und dabei nicht selten Eltern allen Ernstes explizit verbietet, ihren Kindern auf die Sprünge zu verhelfen, weil diese gefälligst alles selbst entdecken sollen.
Die weiterführenden Schulen hingegen sehen sich verstärkt mit dem Problem konfrontiert, in den fünften und sechsten Klassen das auffangen zu müssen, was im Primarbereich oft nicht geleistet werden konnte (oder auch nicht wurde.
Natürlich gibt es bereits eine Fülle an unterschiedlichsten, beispielhaften Lösungen. Dennoch möchten wir allen Schulen, Eltern und Lehrern anbieten, sich dabei unseres universitären Angebots zu bedienen – wann und wo immer es Ihnen sinnvoll erscheinen mag. Gerade weil Schulen und Lehrer nicht alles aus eigener Kraft schaffen können, haben wir nicht nur den Lernserver der Uni Münster ausgetüftelt, sondern auch ein Netzwerk etabliert, das Schulen dazu in die Lage versetzt, die Schüler genau dort aufzufangen, wo sie Unterstützung benötigen: So haben wir z.B. in unserer Region in den letzten Jahren mehrere hundert Studierende gewinnen können, die als von der Uni qualifizierte Förderkräfte Lehrern zur Seite stehen.
Beide Seiten können davon nur gewinnen: Das Studium wird praxisorientierter, die Lehramtsstudenten wissen, auf welche beruflichen Anforderungen sie sich einlassen (müssen), und die Schulen erhalten jene Entlastung, die sie heute mehr denn je brauchen. Und die Gesellschaft fördert die Ressourcen, die in den Köpfen und Herzen einer neuen Generation schlummern.
Nicht zuletzt können wir auf diese Weise eines erreichen: Wir nehmen die Fehler, die Kindern auf ihrem Weg zur Schrift nun einmal unterlaufen, ernst. Kinder verraten uns nämlich damit, was sie schon können und was eben noch nicht. Dadurch wird Fehlern endlich der stigmatisierende Charakter genommen, der vielen Kindern und Eltern die Schulzeit verleidet und häufig dazu führt, Schule und Unterricht eben auch als einen Ort zu empfinden, in dem sie vor allem Niederlagen einheimsen.
Auf diese Weise lässt sich vielleicht der Kreis schließen: Durch unterschiedlichste Formen von Kooperation und gemeinsamen neuen Wegen die Qualität unseres Bildungswesens zu sichern und, nicht zuletzt, Kindern das Gefühl zu vermitteln, dass sie in unseren Schulen tatsächlich angenommen und aufgehoben sind.
Friedrich Schönweiss, im Februar 2010