Das „Silbenschwingen“: Warum Patentrezepte mit Vorsicht zu genießen sind

Patentrezepte sind immer mit Vorsicht zu genießen. Das weiß eigentlich jeder. Leider macht diese Erkenntnis auch vor dem Unterricht und den verwendeten Methoden nicht halt. Man sollte also auf der Hut sein, wenn eine Methode verspricht, eine große Anzahl von Problemen zu lösen. So ist es leider auch mit dem sich auf dem Vormarsch befindenden „Silbenschwingen“.

An sich ist die silbische Segmentierung eines Wortes für das Schreiben und Lesen sinnvoll, nur kommt es dabei sehr auf das „Wie“ an. Abgesehen davon, dass viele Kinder Schwierigkeiten damit haben, das eigene rhythmische Sprechen tatsächlich synchron mit dem Seitwärtsschreiten, Armschwingen und Klatschen zu koordinieren, ist dieser empfohlene motorische Einsatz in zweierlei Hinsicht problematisch:

  1. Beim Schwingen werden alle Silben gleichermaßen hervorgehoben und abgehackt gesprochen, was ihre wichtigen Betonungsunterschiede innerhalb des Wortes zerstört.
     
  2. Zweitens werden die unterschiedlichen Klanggestalten der betonten Vokale nivelliert und damit den Wörtern ein weiteres wesentliches prosodisches Merkmal (siehe Fußnote) genommen.

Eine sprachliche Analyse, die über die ohnehin nicht häufig vorkommende 1:1-Zuordnung von Lauten und Buchstaben hinausgehen muss, ist somit nicht möglich. Oder anders ausgedrückt: Mit dem Silbenschwingen werden den Kindern wichtige Hinweise vorenthalten, die sie brauchen, um ein Wort richtig verschriften zu können, vor allem dann, wenn es NICHT lauttreu ist.
Ein Beispiel:
Es wird allen Ernstes behauptet, dass die Frage, ob ein gedoppelter Konsonantenbuchstabe geschrieben werden muss, mit „Weiterschwingen“ und „Klatschen“ beantwortet werden kann: Kamm -> Käm-me.
Auf die Lösung Käm-me mit zwei „m“ kommt man aber nur, wenn man bereits VORHER weiß, dass man zwischen den beiden „m“ klatschen muss. Ansonsten könnte man auch mit Fug und Recht in Kä-me trennen. Auch wir kam-men wäre möglich und Tom-ma-te. In allen Fällen ist nur ein „m“ im Wort zu hören!
Wenn ein Kind also weiß, dass Kämme mit zwei „m“ geschrieben wird, dann ist es wahrscheinlich dazu imstande, Käm-me zu klatschen, zu schwingen oder zu schreiten. Aber wenn es das schon weiß, ist der Umweg über die motorische Unterstützung nicht mehr nötig.

Wieso eigentlich traut man es den Kindern nicht zu, die eigene (oder neue) Sprache erforschen und deren orthographische Prinzipien entdecken und durchschauen zu können?
Ohne eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung über das Verhältnis des Mündlichen zum Schriftlichen geht es eben nicht. Denn: Die Anordnungen von geschriebenen Zeichen, u.a. doppelte Konsonantenbuchstaben, sind Anweisungen für den Leser, wie er das Zeichengebilde zu artikulieren hat: Ist der Schal oder der Schall gemeint? Das Schrot oder der Schrott? Der eine Konsonant nach dem betonten Vokal gibt den Hinweis, diesen „lang“ zu sprechen. Zwei Konsonanten (gleiche oder verschiedene) weisen auf „kurz sprechen“ hin. Solche und ähnliche Leseanweisungen muss der Schreiber kennen, wenn er sich schriftlich unmissverständlich ausdrücken will.
Man sollte den Kindern also besser dabei behilflich sein, ihren Kopf einzuschalten, um damit – unter sachkundiger Anleitung – die Struktur der (Schrift-)Sprache zu erkunden, anstatt sie schwingenderweise buchstäblich links liegen zu lassen. Patentrezepte, und seien sie noch so spielerisch, gibt es leider nicht.

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Als „Prosodie“ werden jene Momente der gesprochenen Sprache bezeichnet, die über den Laut oder das Phonem als kleinste Einheit hinausgehen, z.B. Betonungen, Melodie, Rhythmus.

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